Tag 1 bei Berlinisi: Talk, talk, talk – and share!

Der erste Tag des Festivals ist ein Tag des Kennenlernens: Man lernt einander kennen, man erkennt Unterschiede und man lernt auch einiges über sich selbst und den eigenen Schreibkontext.

Mittwoch, 10.30 Uhr in der Lettrétage

Nachdem die Organisator*innen, Kurator*innen, eingeladenen Autor*innen und Blogger*innen sich aus ihrer Zerstreuung in den Räumen zum Stuhlkreis versammeln, beginnt das Festival mit einem Vorstellen: Eric Schumacher, Projektleiter des Festivals, und Franziska Winkler, Projektassistentin, begrüßen alle Anwesenden und präsentieren das Programm der nächsten fünf Tage – oder besser gesagt der nächsten fünf Jahre, denn Eric Schumachers versehentlicher Versprecher wird zum Running Gag des Vormittags. Damit man auch weiß, mit wem man es nun in den nächsten fünf Jahren zu tun haben wird, folgt eine Vorstellungsrunde, in der vor allem die eigene Literatur sowie die Herkunft der jeweils acht jungen, georgischen sowie deutschen Autor*innen im Fokus stehen. Prosa und Lyrik sind unter den 16 Schriftsteller*innen die dominierenden Formen literarischen Ausdrucks.

Am Morgen des ersten Tages: Ankommen, Kaffee, Kennenlernen © Angie Martiens
Am Morgen des ersten Tages: Ankommen, Kaffee, Kennenlernen © Angie Martiens
Die Unterschiede…

Noch trennt eine imaginäre, nach Nation organisierte Linie den Kreis, denn noch sitzt man neben jenen, die man aus der eigenen literarischen Szene schon kennt, neben jenen, die die eigene Sprache sprechen – doch schon kurz darauf löst sich diese Grenze zwischen Bekanntem und Neuem auf. Das Festival steht im Zeichen eines deutsch-georgischen Austausches, zu dem bereits dieser erste Tag viel Gelegenheit bietet. Beim gemeinsamen Grillen zur Mittagszeit, einem Spaziergang zur Eisdiele sowie in einem intensiven Workshop am Nachmittag kommen die Berliner*innen und Tbilisier*innen ins Gespräch. Die ersten Eindrücke sind vielfach solche der Überraschung: In Georgien gab es 2008 einen Krieg (Kaukasuskrieg) mit Russland um das georgische Gebiet Südossetien, der, so berichten die Georgier*innen, trotz offiziellem Kriegsende eigentlich weiterbestehe, denn die Grenze würde von Russland stetig weiter südlich in georgisches Gebiet hinein verschoben. Doch dies ist nicht der einzige Krieg, den Georgien in den letzten Jahrzehnten erlebt hat und so spielt das Thema für alle anwesenden Georgier*innen seit ihrer Kindheit eine große Rolle. Das sind andere Bedingungen des Erwachsenwerdens und des Lebens als sie die deutschen Personen im Raum kennen – und so werden schnell große Unterschiede sichtbar. Auch der Umstand, dass es in Georgien keine Förderprogramme für Literat*innen gibt, die eine Existenz sichern könnten, wird ein Unterschied sichtbar, welcher das Schreiben prägen kann. Während mehrere der jungen Berliner*innen Phasen erleben, in denen ein Aufenthaltsstipendium ihnen ein fokussiertes Arbeiten ermöglicht, oder viele durch ihr Studium des Kreativen Schreibens viel Kontakt zu anderen Literat*innen haben, arbeiten die georgischen Autor*innen stets in einen Vollzeitjob, um den herum sie ihr Schreiben organisieren. Damit geht manchmal auch einher, dass man eher weniger Kontakt zu anderen Autor*innen hat. „Mir sind besonders unsere Privilegien, die wir in Deutschland aufgrund der bestehenden Strukturen für Literat*innen haben, bewusst geworden“ stellt die Lyrikerin Julia Dorsch im Anschluss fest.

Workshop "Doing Literature" Part I © Angie Martiens
Workshop „Doing Literature“ Part I © Angie Martiens
… überwinden

Das Festival will jedoch nicht nur Unterschiede erfragen, sondern auch Gemeinsamkeiten entdecken – und die werden trotz aller Differenzen auch bald sichtbar, insbesondere wenn es um die Frage der Inspiration geht. Ungeachtet der Hintergründe eint manche im Raum die Erfahrung, dass das eigene Leben nicht genug Material für literarische Texte bietet und dass es stattdessen der Recherche zu neuen Themenkomplexen oder bestimmte kulturelle und künstlerische Impulse bedarf. Andere wiederum ziehen gerade aus den persönlichen Lebenserfahrungen die größte Inspiration und finden mitunter auch, dass man letztlich immer nur aus der eigenen Perspektive authentische schreiben könne.

Mittagszeit ist Grillzeit © Angie Martiens
Mittagszeit ist Grillzeit © Angie Martiens
Der Abend: Die Auftaktveranstaltung mit Film und Diskussion

Den Mittwochabend krönt die offizielle Eröffnungsveranstaltung unter dem Titel „Writing and Living in Metropolis“. Dr. Torsten Wöhlert, Staatssekretär für Kultur, berichtet in seinem Grußwort davon, dass er Tbilisi Mitte der 1980er Jahre selbst einmal bereiste und dass beide Städte vieles – und nicht zuletzt ihr Wachstum – verbinde. Der Abend ist all dem gewidmet, das vor dem Festival stattfand: Die Kurator*innen – je drei deutsche und georgische Autor*innen, die einer ‚älteren‘, bereits etablierten Generation angehöre – bereisten Tbilisi vorab, um das Festival zu planen, sich über die Auswahl der 16 einzuladenden Autor*innen aus der jüngeren Generation zu beraten und um einen deutsch-georgischen Austausch zu beginnen, der auch während des Festivals im Fokus stehen soll. Vom Austausch berichten auch drei Kurzfilme – die Highlights des Abends (hier geht’s zum Trailer). Die Filmemacher*innen Sabine Carbon und Felix Oehler begleiteten die Reise und kreierten drei Kurzfilme, in denen sie die sechs Kurator*innen in deutsch-georgischen Paaren beim Stadtrundgang und Gespräch zeigen. Die gefilmten Diskussionen zwischen Eka Kevanishvili und Paula Fürstenberg, Tamta Melashvili und David Wagner sowie Hendrik Jackson und Zviad Ratiani brachten mitunter ähnlich Unterschiede zu Tage wie die Diskussionen der jungen Autor*innen an diesem Tag (etwa die deutschen Förderstrukturen vs. die georgischen Unterordnung einer schriftstellerischen Tätigkeit unter einen Vollzeitjob). Eka Kevanishvili hebt auch hervor, dass die georgische Kultur sehr maskulin und patriarchal geprägt sei – nicht zuletzt da die Kirche eine dominante Rolle in der Gesellschaft habe. Der Kurzfilm inszeniert ihr Statement mit den Aufnahmen einer (auf mich traditionell wirkenden) Hochzeit auf dem Vorplatz einer Kirche, die sich während des Gespräches im Hintergrund abspielt. Es stellt sich mir hier auch die Frage, ob wir es da nicht vielleicht auch mit mehr Gemeinsamkeiten zu tun haben, als wir zunächst annehmen würden. Während des Festivals auch auf die Rolle des Geschlechts in Bezug auf eine schriftstellerische Tätigkeit zusprechen zu kommen, wäre sicherlich lohnenswert.

Tom Bresemann eröffnet den Abend und das Berlinisi © Angie Martiens
Tom Bresemann eröffnet den Abend und das Berlinisi © Angie Martiens

Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Bestätigungen und Überraschungen, Irritationen und Klärungen werden auch in den kommenden fünf Tagen – bzw. fünf Jahren – hervortreten – und in den Blogbeiträgen thematisiert werden. Und was sagen die Gäste zum ersten Tag?

Der Autor David Frühauf wünscht sich für die nächsten Tag, das man den starken Fokus auf Arbeitsstrukturen und Inspirationswege verlässt: „Ich würde mich gern über Poetologie unterhalten – ein Thema, das ja den Menschen aus der Lyriker näher liegt, mich aber auch sehr interessiert, obwohl ich schon seit Längerem nur noch Prosa schreibe.“ Ebenfalls aus der Prosa kommt Zura Abashidze, der das Gefühl hatte, dass der heutige ersten Teil des Workshops „Doing Literature“ sich vorrangig um die Erfahrungen deutscher Literat*innen gedreht habe. Die Fragen nach institutionellen und kulturpolitischen Strukturen einer freien Literaturszene, die der Workshop heute anvisierte, sind in der Tat aus einer deutschen Perspektive heraus gestellt – es ließe sich in der Fortsetzung des Workshops am Freitag daher vielleicht auch danach fragen, ob das deutsche System mit seinen im internationalen Vergleich mitunter traumhaft wirkenden Möglichkeiten für freie Künstler*innen denn als Steilvorlage dienen muss, oder ob für den georgischen Kontext vielleicht ganz andere Bedürfnisse herauskristallisiert werden können (beide Workshopteile sollen hier noch in einem gesonderten Beitrag näher besprochen werden). Zura Abashidze stellt am Ende des ersten Tages aber auch fest, dass er seine Literatur bisher eher in nationalen Grenzen gesehen habe und dass ihm bereits der erste Austausch ein globaleres Verständnis eröffnet habe.

 

von Angie Martiens