Ein wenig Durchhaltevermögen ist gefragt bei der langen Lesenacht – immerhin sind es acht Duos mit je einem Autor beziehungsweise einer Autorin aus Deutschland und aus Georgien, die einen kleinen Einblick in ihr Schaffen geben werden. Für alle, die nicht dabei sein können oder alle sechs Stunden durchhalten, gibt es die Aufnahme des Abends übrigens auf reboot.fm nachzuhören und in der E-Book-Anthologie »Zwischen den Regalen«, herausgegeben von Eric Schumacher und erschienen im Verlag mikrotext, nachzulesen. Viele der Texte wurden übrigens eigens für das Festival Berlinisi ins Deutsche übertragen und werden beim Festival von Karen Suender und Denis Abrahams rezitiert.
1. Lesung: Ketevan Meparidze und Rudi Nuss
Moderiert von Autorin Paula Fürstenberg bilden Ketevan Maparidze und Rudi Nuss den Auftakt. Maparidze debütierte 2017 mit einem Kurzgeschichtenband, aus dem sie heute einen Text vorträgt, und Nuss hat sich durch den Gewinn des open mikes 2016 und Veröffentlichungen in diversen Literaturmagazinen bereits einen Namen gemacht.
Maparidze beginnt mit ihrem Text auf Georgisch, um ein Gefühl für Sprache und Rhythmus zu vermitteln, während Paula Fürstenberg die deutsche Übersetzung von »Die Pfanne« liest, eine kafkaeske, nachdenkliche Geschichte über eine Frau, die sich eines Tages in eine Pfanne verwandelt. Surrealistische Elemente spielen eine wichtige Rolle in ihren Texten, erklärt die Autorin. »Ich experimentiere gerne«, sagt sie, »und diskutiere verschiedene Themen mit Fantasy.«
Surreal geht es auch in Rudi Nuss’ kapitalismuskritischer Kurzgeschichte »Die neue Finsternis« zu. »Ich liebe Paralleluniversen«, erzählt er danach, ganz gleich, ob er über sie liest oder sie selbst erschafft. Auch er zitiert Kafka. Die Nähe ist bei beiden also evident – oder? Paula Fürstenberg hakt nach: Sind Kafka oder andere Autoren relevant für ihr literarisches Schaffen? Maparidze wägt ab. »Das Konzept ist vergleichbar, wobei ich eher andere Autoren in meinen literarischen Texten spiegle – was natürlich nicht heißt, dass ich nicht gerne wie Kafka schreiben würde!« Rudi Nuss gibt zu, dass das Zitat eher ein kleiner persönlicher Witz von ihm war. Generell konsumiere er viel und gerne Medien, »und natürlich fließt das in meine Texte ein.«
2. Lesung: Saskia Warzecha und Nika Lashkhia
Weiter geht’s bei der langen deutsch-georgischen Lesenacht mit Lyrik aus beiden Ländern, moderiert von Eka Kevanishvili. Es beginnt Nika Lashkhia, der 1989 geboren wurde und im westlichen Teil Georgiens eher ländlich lebt. Dort ist er als Mitorganisator von »F5« tätig, einem Literaturfestival, das nach der entsprechenden PC-Taste benannt wurde und die Literatur auch in den ländlichen Raum holen soll.
Für die Lesenacht hat er einige seiner längeren Gedichte und Haikus ausgewählt, die demnächst in seinem Lyrikdebüt erscheinen werden. Bevor er zu lesen beginnt, richtet er das Wort an das Publikum, bedankt sich und unterstreicht, wie glücklich er ist, in Berlin sein zu dürfen. Dann geht’s los mit dem ersten Gedicht, dessen Titel auf Englisch so viel wie »Mick Jagger and My Father« bedeutet. Es folgen »Der Spender« – ein Gedicht, dass denjenigen mit ›Literatur im Blut‹ befiehlt, diese Begeisterung auch weiterzutragen, andere zu infizieren. In wenigen Versen bringt Nika Lashkhia auf den Punkt, was auch im deutschen Literaturbetrieb ständig gepredigt wird. Es folgen einige von Lashkhias Haikus, die vor allem auf Georgisch wunderbar melodisch klingen und teilweise sehr persönliche Themen wie den Tod nahestehender Personen behandeln, aber auch Alltagsthemen wie sich stapelnde Rechnungen thematisieren.
Im Anschluss liest Saskia Warzecha ihre Gedichte. Man könnte eine Stecknadel in der Lettrétage fallen hören, so gebannt lauscht das Publikum ihrem Vortrag und der äußerst atmosphärischen und kompakten Lyrik. Von ›rückwärtskompatiblesn systemen‹ und ›übergroßen gliazellen‹ ist hier die Rede, später erklärt Computerlinguistin Warzecha im Gespräch, dass sie oft Konzepte aus ihrer Profession in ihre Texte einwebt. Zum Schreiben sei sie über das Zuhören gekommen. Es gebe viele Antworten auf die Frage, wie sie Autorin geworden sei, sagt sie. Doch all ihre Texte finden einen Ursprung im Nachdenken über Sprache und Kommunikation. Das Manuskript zu ihrem Lyrikdebüt mit dem Arbeitstitel »Approximanten« – ein linguistisches wie auch mathematisches Konzept des Sich-Annäherns – sei fertig und sie stehe bereits in Gesprächen mit verschiedenen Verlagen, das älteste Gedicht in diesem Band sei schon drei Jahre alt.
Auch Nika Lashkhias Debüt wird bald in Georgien erscheinen. Er habe sich nie vorstellen können, dass er mal ein Buch herausgeben würde und hofft, dass er sein Debüt auch irgendwann in Berlin präsentieren kann.
3. Lesung: Anina Tepnadse und Marie Gamillscheg
Die georgische Autorin Tamta Melashvili stellt das nächste Duo vor: Marie Gamillscheg, deren Roman »Alles was glänzt« 2018 bei Luchterhand erschien, und Anina Tepnadse, die, wie wir erfahren, bereits als Teenagerin eine bekannte Bloggerin war, weil sie über in Georgien heikle Themen wie die Sexualität junger Frauen schrieb. »Pillen« lautet ihr Text über eine Ich-Erzählerin, die den Drogen verfällt, dem Teufelskreis und der Leere der Existenz, während Gamillschegs poetischer Text »Von den Töchtern« mehr noch von Vätern als Töchtern handelt.
Ob sich für sie nach der Veröffentlichung ihres Debüts etwas geändert habe, interessiert Melashvili. »Meine Familie glaubt mir endlich, dass ich einen richtigen Job habe«, sagt Gamillscheg schmunzelnd. Und sie gibt zu, dass sie dazu tendiert, ihre Texte immer und immer wieder zu überarbeiten. »Das geht bei einem gedruckten Buch natürlich nicht. Zum ersten Mal kann ich mein Werk nicht mehr ändern.«
An Tepnadse gewandt lautet die Frage, ob auf Georgisch zu schreiben denn mehr Vor- oder Nachteile habe. »Es stresst mich ein wenig, dass ich in der Tradition einer so großartigen Literatur stehe; es macht mich stolz, ist aber auch hart.« Sie lebe sehr gerne in Georgien, so Anina Tepnadse: »Es ist ein großartiges Land, ich gehöre dahin, vor allem jetzt, da sich politisch und sozial große Veränderungen abzeichnen.«
4. Lesung: Helene Bukowski und Zura Abashidze
Als Nächstes sitzen Helene Bukowski und Zura Abashidze auf der Bühne, zwischen ihnen moderiert David Wagner. Helene Bukowski, geboren 1993, studiert Literarisches Schreiben und Lektorieren in Hildesheim und war bis vor Kurzem Mitheraugeberin der Literaturzeitschrift BELLA triste. Momentan konzentriert Bukowski sich ausschließlich aufs Schreiben, sie arbeite gerade intensiv an ihrem Debütroman.
Heute Abend liest sie ihren Text »metallregale«, in dem die Ich-Erzählstimme von ihrer Beziehung zu girl erzählt, über die Schwierigkeiten dieser Beziehung, aber auch über schöne Momente. Das Geschlecht der Erzählstimme bleibt bis zur Mitte des Textes vage, erst ab da kristallisiert sich langsam heraus, dass es sich hier um eine lesbische Partnerschaft handelt, die vor ganz speziellen Herausforderungen steht. Mit der Leerstelle in der Erzählstimme wollte Bukowski niemanden austricksen, erklärt sie später im Gespräch mit David Wagner. Diese Konstruktion war ihr zunächst gar nicht bewusst, allerdings habe sie auch ›girl‹ keinen konkreten Namen gegeben, um einen weißen Fleck zu setzen und mit dem Unkonkreten zu spielen.
Auch Zura Abashidze, geboren 1995, beschäftigt sich in seinem Erzählungsband »How to kill Billy Elliot« (2016), der diesen Herbst auch in Deutschland erscheinen wird, mit ähnlichen Themen. Er setzt den Fokus auf Menschen, die in Georgien leben und angesichts persönlicher oder politischer Probleme ins Straucheln geraten. So auch in der Erzählung »Den Kindern geht es gut«, welche er heute Abend liest.
Der Ich-Erzähler, ein kleiner Junge, würde gern auch Kleider tragen und Dinge tun, die von der Gesellschaft nur Mädchen zugesprochen werden. Vor allem seine Großmutter gängelt ihn immer wieder und will einen Enkel, der sich anpasst, nicht auffällt, einfach »normal« ist. Im Gespräch mit David Wagner erklärt Abashidze, dass Georgien noch wenig offen sei gegenüber von der gesellschaftlichen Norm abweichenden Genderkonzepten. Dadurch entstehen immer mehr disfunktionale Familien, in denen man sich geschlechterkonform verhalten müsse. Mit seinen Kurzgeschichtenband, für den er den georgischen Literaturpreis Saba für das beste literarische Debüt 2016 gewann, möchte er gegen überholte und starre Konzepte in Georgien ankämpfen.
5. Lesung Nini Eliashvili und Titus Meyer
In Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit ist die Lesung von Nini Eliashvili und Titus Meyer, die Tom Bresemann moderiert, eher kurz. Das darf aber auf keinen Fall missinterpretiert werden – unwichtiger sind die beiden Lyriker nicht, im Gegenteil. Der gebürtige Berliner Titus Meyer verrät im Gespräch, dass er über Poesie versucht, Dinge auszudrücken, die schwer in Worte zu fassen sind. In seinen Gedichten widmet er sich zwei bestimmten Stilmitteln: dem Anagramm und dem Palindrom, also Silben, Wörtern und Zeilen, die ebenso rückwärts gelesen werden können oder deren Buchstaben in verdrehter Reihenfolge ein neues, ebenfalls sinniges Wort ergeben.
Nini Elisahvili wurde zwar 1995 geboren, gehört aber zu den erfahrensten Teilnehmer*innen des Berlinisi-Festivals: Seit dem zarten Alter von 15 Jahren veröffentlicht sie bereits Gedichte. Ihr wird eine ganz besondere Ehre zuteil: Ein Gedicht von Eliashvili ist auf dem Umschlag des vierzigseitigen Programmhefts abgedruckt: »jeder dieser Orte dient der Einübung / von Gefühlen, von Wahrgenommenem. / Da packt einen die Lust, / sich das Leben der Anderen einzuverleiben. Man braucht / Distanz, zu sich selbst, bis jener Funke entsteht.«
6. Lesung: Julia Dorsch und Tornike Tchelidze
Moderiert von Eka Kevanishvili folgt nun abermals Lyrik, und zwar von Julia Dorsch und Tornike Tchelidze. Julia Dorsch, geboren 1994, studiert Soziale Arbeit in Berlin und liest einige ihrer Gedichte. Beim Schreiben interessiere Dorsch vor allem die Symbiose von Poesie mit anderen Formen der Kunst, erzählt sie später im Gespräch mit Kevanishvili. Sie bringe ihr Schreiben gerne mit Musik, Performance- und visuellen Künsten zusammen, sie möge einfach die Idee, verschiedene Dimensionen zu kreieren, den Dialog zwischen den Künsten zu entfachen und in ihre Poesie zu übertragen. Momentan arbeite sie an einzelnen Gedichten. Für ihr Debüt will sie zunächst ein größeres Gesamtkonzept erarbeiten.
Tornike Tchelidzes Lyrikdebüt »Concentric Circles« erschien bereits 2013 bei INTELEKTI und war für diverse Preise nominiert. Der Lyriker wurde 1990 geboren und ist als Lehrer für Georgische Literatur und Blogger tätig. Auch er liest einige seiner Gedichte, darunter eines, in dem das lyrische Ich ihn selbst, Tornike, immer wieder anspricht. Später erklärt er, dass er sich nicht selbst Poet oder Autor nennen würde, aber auch nichts gegen diese Bezeichnung habe. »Es gab eine Zeit, da mochte ich das. Da sagte ich: ›Mama, sag mir, dass ich ein Autor bin!‹« (Allgemeines Lachen.)
Zum Abschluss fragt Kevanishvili beide Lyriker*innen noch, was sie an der Poesie mögen und was nicht.
Tchelidze: »Wenn ich das wüsste, würde ich keine Lyrik mehr schreiben.«
Dorsch: »Ich weiß nicht, was ich nicht mag. Aber ich liebe es, mit verschiedenen Wörten zu spielen und größere Deutungsspielräume zu eröffnen.«
7. Lesung: Giorgi Shonia und David Frühauf
Nach einer kurzen Pause weckt zu fortgeschrittener Stunde Giorgi Shonia mit seiner Energie das Publikum wieder auf. Das erste Gedicht, das der 26-Jährige liest und das Sid Vicious gewidmet ist, liest er laut, mit starker Betonung und fast ohne zu atmen. Im Gespräch mit Hendrik Jackson verrät er, dass seine Gedichte in Georgien nicht bei allen Anklang fanden – also dachte er sich einen US-amerikanischen Autor namens Hans Promwell aus, den er »übersetzte« und prompt einen Preis dafür gewann. Das Spiel mit Fiktion und Wahrheit trieb er ziemlich weit: »Ich habe für Promwell sogar eine Facebook-Seite angelegt, auf der ich mehrfach angeschrieben wurde – und man lud mich sogar nach Georgien ein!«
Im Vergleich eher zurückhaltend ist da David Frühauf. Der gebürtige Österreicher liest einen nachdenklichen Text über die Gesellschaft, ganz in der Tradition der Literatur seines Landes, wie Hendrik Jackson befindet. Österreich ist das Stichwort für eine Anekdote: Wie es der Zufall wollte, fand er am Vortag in einem Stapel »ausgesetzter« Bücher, die in seiner Straße lagen, »Don Juan« von Peter Handke, ebenfalls einem österreichischen Autor. Und da Zufall vielleicht manchmal Schicksal ist, schlug er das Buch genau an der Stelle auf, an der es heißt: »Nach Georgien aufgebrochen war er…« Aber nicht nur die Österreich- und Georgien-Nähe sind für Hendrik Jackson bemerkenswert, auch inhaltlich hinsichtlich der geäußerten Trauer und der Sprachbewegung, vergleich er David Frühauf mit Peter Handke. Na, es gibt wirklich Schlimmeres!
8. Lesung: Lorena Simmel und Tako Poladashvili
23.30 Uhr, die letzte Lesung des Abends, noch mal alle Kräfte mobilisieren – es lohnt sich. Christophe Knoch stellt die beiden letzten Autor*innen der langen deutsch-georgischen Lesenacht vor. Lorena Simmel, geboren 1988, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut Biel sowie in Berlin und Warschau. Heute Abend liest sie ihren skurrilen und ebenso witzigen Text »Der Laden«, der Kettenreaktionen zwischen Menschen ganz plastisch aufzeigt und so proklamiert, dass die Regung jedes Einzelnen Einfluss auf unsere Welt hat.
Den Abschluss des Abends bestreitet die 28-Jährige Tako Poladashvili mit ihrem Text »Zwei Bäume, zwei Menschen, zwei Tote«, einem Auszug aus ihrem 2016 erschienenen Roman »Interpreting Death«. Poladashvili verwebt darin fantastische sowie märchenhafte Elemente, wenn sie über den nicht älter werdenden Alistair schreibt, der sich mit dem Kaiser anfreundet. Gleichzeitig trägt der Text auch eine gewisse Schwere in sich, wenn Alistairs Schwester Kare beschreibt, wie sehr sie und ihre Eltern unter dem ewigem Jungsein ihres Bruders leiden.
Zwei knappe, aber nicht weniger beeindruckende Texte runden die georgisch-deutsche Lesenacht perfekt ab. Auch Moderator Christophe Knoch plädiert dafür, diese beiden »Literaturschätze« ohne Nachfragen für sich sprechen zu lassen.
Texte und Fotos: Isabella Caldart und Juliane Noßack